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Selektive Ignoranz

Vom Wissen zum Nicht-Wissen-Wollen und zurück

Wie viele „Sternlein“ stehen, weiß bis jetzt wahrscheinlich niemand so genau. Würdest Du es gern wissen? Sie sind da,  ob ihre Zahl nun bekannt ist oder nicht, es würde nichts ändern. Oder bist Du der Auffassung, es würde für Dich etwas ausmachen?

Vor Jahren hatte ich mal einen Artikel zum Thema „Selektive Ignoranz“ geschrieben, damals im Zusammenhang mit Prokrastination, der berühmten Aufschieberitis. Inzwischen finde ich, dass es heute für so gut wie jeden, der sich im Strudel des Informationsflusses bewegt, sinnvoll und hilfreich ist, Nachrichten und Post aufmerksam und vorausschauend einzuordnen und ggf. zu ignorieren. Also auch, wenn Du mit Aufschieberitis und den immer so wichtig erscheinenden „Ausweichtätigkeiten“ nichts am Hut hast, habe ich diesen Artikel genau für Dich geschrieben. 

Geht es Dir nicht auch so, dass Du manchmal innehältst und denkst, warum habe ich das jetzt gelesen oder angeschaut? War interessant aufgemacht, aber ich habe den Plot schon wieder vergessen – worum ging es da eigentlich?  

Falls Du das jetzt schon von diesem Artikel hier denkst, lies bitte nicht weiter. Ich möchte kein womöglich vorhandenes  Informationschaos vergrößern.  Aber vielleicht ist außer Sternchenzählen doch noch was Nützliches für Dich drin? Einen Versuch wäre es wert. Ggf. hilft Dir ja Deine Maus 😘.

Uns allen geht es doch hin und wieder so, dass wir etwas auf die etwas längere Bank schieben, etwas, das vielleicht anfänglich wichtig, aber lästig war. Das machen wir dann manchmal so lange, bis aus „wichtig“  ganz überraschend „dringend“ geworden ist. Das Branchen- und Hierarchie-übergreifende Beispiel dazu ist die Steuererklärung. Ich kenne niemanden, der nicht so seine Story erzählen könnte.

Auch Prokrastinations-resistente Menschen sind dagegen nicht gefeit. Und wenn man das mal untersuchen würde, käme man auch bei nicht prokrastinierenden Menschen ab und zu darauf, dass sich oben schon aufgeführte „Ausweichtätigkeiten“ fast unbemerkt vor Wesentliches schieben und sich dort von „unwichtig“ über „wichtig“ und zu „sofort zu erledigen“ aufplustern. Und auch diese Menschen  fühlen sich dann verpflichtet und kümmern sich umgehend.  Natürlich schenken sie ihnen auch die Zeit, die sie dazu brauchen. Bingo! Schon hat eine Ausweichtätigkeit wieder ihre Aufgabe formvollendet erfüllt.

Dir geht das nicht so? Gratulation, Du bist eine Seltenheit! Wahrscheinlich bist Du ein Naturtalent. Aber vielleicht liest Du trotzdem noch ein bisschen weiter? Was ich jetzt schreibe, hat für Dich dann natürlich nur vorsorglichen Charakter.

Erst einmal möchte ich zwei Sätze zitieren, die von anerkannten und durch ihre besondere Arbeit ganz offensichtlich auch im Umgang mit „Ausweichtätigkeiten“ sehr erfahrenen Persönlichkeiten stammen:

Es gibt viele Dinge, die ein kluger Mensch nicht wissen will
(Nach: Ralph Waldo Emerson, amerikanischer Philosoph und Autor)

Zu lernen, Dinge zu ignorieren, ist einer der besten Wege zu innerem Frieden!  (Robert J. Sawyer, kanadischer Science-Fiction-Autor)

Das heißt also: Auswählen und Entscheiden

Wie wäre es mit einem Experiment? Zum Beispiel so: Eine Arbeitswoche, also fünf Tage lang, Verzicht auf alle Informationen, die nicht unmittelbar brauchbar für Dich sind. Eine solche Situation hat man ja gewöhnlich nur im Urlaub  – eventuell. Also fünf Arbeitstage lang  keine Zeitschriften, kein Radio, kein TV – auch nicht auf dem Handy. Jedenfalls keine Sendungen mit allgemeinem Informationsgehalt. Internetsurfen höchstens, wenn Du etwas dringend für Deine Arbeit brauchst – selbst bemogeln ist hier besonders einfach, aber bitte nicht!  Auch Bücher stehen auf der NEIN-Liste – höchstens etwas mit belletristischem Charakter und wirklich nur zur Entspannung.

Bei jeder Information, die zu Dir findet, frage Dich, wozu Du sie jetzt gleich verwenden kannst. Wenn sie nicht auf Deine aktuelle To-Do-Liste passt – weg damit.  

Kannst Du Dir so etwas vorstellen? Nur mal aus Neugier?

Du könntest jetzt schon einmal überlegen, was Du mit Deiner neu gewonnenen Zeit anfangen würdest – denn Du würdest übrige Zeit haben! Ein Träumchen für viele von uns. Viel Spaß!

Nun möchte ich gern noch ein paar Worte zum Wissen und Nicht-Wissen anfügen. Betrachten wir die Kenntnis um Dinge und Zusammenhänge einmal als Wissen – und das im Verlauf der letzten Jahrhunderte. Yuval Noah Hahari* denkt darüber so: Das freie Denken habe in dieser Zeit ein sehr großes Vertrauen in das rationale Individuum entwickelt. Der individuelle Mensch wurde als unabhängiger und vernünftiger Akteur gesehen und sei so die Grundlage der modernen Gesellschaft geworden.

Die Demokratie gründete sich auf der Vorstellung, der Wähler wisse am besten, was richtig sei, die freie Marktwirtschaft gesteht dem Kunden zu, er habe immerdar Recht und die liberale Bildung bringe den Schülern bei, eigenständig zu denken.

Ist so viel Vertrauen in das rationale Individuum etwa ein Fehler? Verhaltensökonomen und Evolutionspsychologen haben gezeigt, dass die meisten menschlichen Entscheidungen auf emotionalen Reaktionen und heuristischen Kurzschlüssen und Strategien basieren und weniger auf rationaler Analyse. Und weiter, dass unsere Emotionen und Problemlösungs-Strategien möglicherweise für ein Leben in der Steinzeit geeignet waren, im „Silicon Age“ jedoch seien sie leider völlig unbrauchbar.

Harari hält Rationalität und Individualität inzwischen für ein Mythos. Menschen denken selten eigenständig, sondern vielmehr in Gruppen. Kein Einzelner weiß alles, was nötig ist, um eine Kirche, eine Atombombe oder ein Flugzeug zu bauen, nicht einmal einen Kindergarten!

Homo sapiens, also unsere besondere Ordnung innerhalb der Primaten, verschaffte sich seinen Vorsprung gegenüber allen anderen Tieren nicht durch individuelle Rationalität, sondern durch seine beispiellose Fähigkeit, in großen Gruppen gemeinsam zu denken.  

Heute, und das wird immer deutlicher, weiß der einzelne Mensch erschreckend wenig über die Welt und das, was es da alles gibt und wie es zusammenhängt – seien es Naturphänomene oder technische Entwicklungen. Ich z.B. fahre ein relativ großes Auto (ja…) und kann nicht einmal einen Reifen wechseln. Ich habe ein Handy und nutze einen richtigen Computer. Doch ich käme nicht von A nach B und könnte meine Arbeit nicht machen, hätte ich keine technische Expertise zur Hilfe … und ich bin damit überhaupt nicht alleine, wie ich weiß (na, wenigstens das!).

Nun passt hier noch der Begriff der „Wissensillusion“ hinein. Steven Sloman und Philipp Fernbach haben ein Phänomen so genannt, das sie mit dem „Reißverschluss-Experiment“ verdeutlichten: Sie baten Menschen, zu beschreiben, wie gut sie über die Funktion eines ganz gewöhnlichen Reißverschlusses Bescheid wissen. Die Probanden beschrieben präzise, wie und wo sie Reißverschlüsse benutzen und wie hilfreich sie in den verschiedenen Anwendungsgebieten sind. Und sie gaben dadurch zu verstehen, dass sie ganz genau über Reißverschlüsse Bescheid wüssten.

Nun wurden sie weiter gebeten, da sie ja so gut Bescheid wissen, zu beschreiben, was wärend des Verschließens so alles im Innern dieses allgegenwärtigen Gebrauchsgegenstands passiert. Ich habe einmal eine bebilderte Beschreibung darüber gelesen, an die ich mich nur deshalb erinnere, weil sie wirklich hochkompliziert und sehr raffiniert war. Aber ich habe keinerlei Detail mehr im Kopf. Die Befragten im Experiment hatten null Ahnung. Keine Vorstellung, dass sowas Prosaisches kompliziert sein kann. Aber: Sie „wussten Bescheid“. Daher der Begriff der „Wissensillusion“. Sie besagt, wir behandeln das Wissen in den Köpfen anderer, als wäre es unser eigenes.

Unser Vertrauen auf das Gruppendenken hat uns zu den Herren über die Welt gemacht. Mit der Wissensillusion sind wir in der Lage, prima durchs Leben zu kommen, ohne das illusorische Bemühen, alles selbst zu verstehen.

Die Macht des Gruppendenkens ist allerdings inzwischen so tief in uns verwurzelt, dass sie sich auch  dann nur sehr schwer durchbrechen lässt, wenn sie Ansichten vertritt, die reichlich willkürlich erscheinen. Ich möchte hier nicht in die Politik einsteigen, Du hast sicherlich im Blick, worauf ich abzielen könnte. Genau darauf!

Und auf der anderen Seite: Moderne Demokratien bestehen demnach aus lauter Menschenmengen, die einträchtig rufen: Ja, der Wähler weiß, was am besten ist“ und „Ja, der Kunde hat immer Recht“.

Ein bisschen böse? Was meinst Du dazu?

Oder sollten wir mal die KI fragen, die haben wir schließlich selber programmiert. Wenn wir das geschickt machen, wird vielleicht die Eingangsfrage nach der Zahl der Sternlein tatsächlich mal beantwortet?

Oder vielleicht hast Du diesen Artikel ignoriert und genießt gerade eine Portion inneren Frieden?

Yuval Noah Harari, 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert. C.H. Beck 2018
Ich habe aus der 15. Lektion zitiert: “Nichtwissen”

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