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Aufmerksamkeit

Aufmerksamkeit:
 Einmal aufmerksam betrachtet

Wenn uns jemand um unsere – meist als geschätzt bezeichnete – Aufmerksamkeit bittet: Wissen wir dann, was derjenige von uns erwartet? Oder anders herum: wissen wir, was genau wir ihm geben sollten? Bitte probiere es: Ich bitte Dich nun um Deine geschätzte Aufmerksamkeit zu diesem Thema.

 

Fragen wir uns doch einmal: Sind wir eigentlich aufmerksam unserer Aufmerksamkeit gegenüber? Sind wir uns ihrer bewusst? Wissen wir, wann wir sie „eingeschaltet“ haben? Oder beschweren wir uns nur: „Ich kann mich so schlecht konzentrieren …“ Oder ähnlich? Achten wir unsere Fähigkeit zur Aufmerksamkeit – die wir alle durchaus besitzen – gebührend?

 

Hören wir einmal genau hin, wie jemand, für den Aufmerksamkeit ganz besonders wichtig sein muss, sie einschätzt: Jacques Lusseyran (1924 bis 1971) war französischer Schriftsteller, Hochschullehrer (zuletzt für Literatur in den USA und auf Honolulu) und er war blind.

1970 (ein Jahr vor seinem Tod) sagte er in einem Vortrag mit dem Titel „Der Blinde in der Gesellschaft“:

 

„Da ich blind bin, habe ich eine neue Fähigkeit entwickelt. Alle Menschen haben sie eigentlich, aber sie vergessen, sie zu gebrauchen. Diese Fähigkeit ist die Aufmerksamkeit. Wenn man ohne Sehvermögen lebt, ist es wichtig, sehr aufmerksam zu sein und stundenlang in hoher Wachsamkeit, Aufnahmefähigkeit und Tätigkeit zu bleiben.  Aufmerksamkeit ist nicht nur eine Tugend der Intelligenz oder ein Ergebnis der Erziehung und etwas, was man nicht braucht. Aufmerksamkeit ist ein Daseinszustand. Ein Zustand, ohne den wir nie in der Lage sein würden, uns selbst zu vervollkommnen. Im wahrsten Sinne: Sie ist der Horchposten des Universums.“ 

 

Nun wissen wir aus anderen Quellen, dass der Vorgang, uns zu vervollkommnen, ein lebenslanger ist; es scheint also wirklich lohnend, sich mit der Aufmerksamkeit zu beschäftigen. Johann Wolfgang von Goethe sagt es in Wilhelm Meisters Wanderjahren kurz und knackig: „ Aufmerksamkeit ist das Leben.“

 

Dann möchte ich Dir noch eine andere Definition von Aufmerksamkeit vorlegen, nämlich aus einem medizinischen Lexikon:

 

 „Aufmerksamkeit: (f). Ausrichtung der geistigen Aktivität auf einen oder mehrere bestimmte Gegenstände, was als aktive Zuwendung oder als passives Angezogensein in Erscheinung treten kann. Zu dem Begriff gehört ein Absehen (Ausblendung) von anderen Gegenständen des Wahrnehmungsfeldes als aktive Leistung. Die Aufmerksamkeit ist von vielen äußeren (Zahl der sich anbietenden Eindrücke) und inneren (Gestimmtheit, Ausgeruhtsein) Faktoren abhängig.“ 

 

In anderen Nachschlagewerken heißt es: „Fluktuierende resp. distributive A (f): Fähigkeit, mehreren Gegenständen gleichzeitig die Aufmerksamkeit zuzuwenden oder große Beweglichkeit der Aufmerksamkeit bei raschem Wechsel der Inhalte.“

Weiterhin wird die gleichschwebende Aufmerksamkeit angeführt,  als eine zweckmäßige Haltung des Therapeuten / Analytikers im Sinn eines sich Überlassens seiner eigenen unbewussten Geistestätigkeit unter Vermeidung des Nachdenkens und der Bildung bewusster Erwartungen (…).

 

Horchposten des Universums

gleichbedeutend mit Leben

aktive Zuwendung

passives Angezogensein

Fluktuierend …  gleichschwebend …

 

Da haben also die unterschiedlichsten Leute über Aufmerksamkeit nachgedacht und sie von ganz verschiedenen Seiten aus betrachtet. Hier ist noch eine andere Sichtweise:

 

„Konzentration des Geistes ist für mich das allerwichtigste in der Erziehung, aber ganz bestimmt nicht ein Ansammeln von Fakten. Wenn ich noch einmal zur Schule gehen sollte, würde ich überhaupt keine Fakten studieren. Ich würde Konzentrationskraft und Gelassenheit entwickeln und dann mit diesem gut ausgebildeten Instrument Fakten mit Willenskraft herbeiholen.“

 

Dieses Statement stammt von einem Mann, der eine neue Ausgabe der Encyclopädia Britannica einmal durchlas und anschließend jede Frage über den Inhalt beantworten konnte. Dieser Mensch ist Vivekananda, ein indischer Weiser und Nachfolger von Ramakrishna. Ich persönlich bin der Auffassung, dass zu einer solchen Leistung doch auch eine besondere Begabung gehört; aber ganz ohne Zweifel hatte er zusätzlich seine Aufmerksamkeitsfähigkeit besonders trainiert!

Diese so verschiedenen Betrachtensweisen von Aufmerksamkeit zeigen, dass die Aufmerksamkeit unterschiedliche Gestalt haben kann. Wir sprechen von freier und von gebundener Aufmerksamkeit oder wir sagen, die Aufmerksamkeit sei offen oder konzentriert/fokussiert.

 

Sehen wir schon den Unterschied zwischen diesen beiden Formen?

 

Zu Beginn haben wir auch die Begriffe passives Angezogensein und aktive Zuwendung gehört  …  was ist der Unterschied?

 

Dazu gibt es eine hübsche Geschichte, die wiederum von Jaques Lusseyran stammt:

 

„Es war einmal Weiser, der Dattatreya genannt wurde, der eines Tages auf seiner Reise in der Nähe einer Schmiede stand. Zufällig ging dort eine Heiratsgesellschaft in schönen Kleidern und mit viel Lärm vorbei. Der Schmied machte Pfeile und schaute sich den Umzug nicht an … Dattatreya war darüber sehr überrascht und befragte ihn dazu. Der Pfeil-Schmied sagte, er habe nichts von dem Umzug bemerkt, da er dabei war, einen Pfeil zu schärfen und zu spitzen. Er war in seine Arbeit vertieft und mit ihr verbunden und zu dieser Zeit war die Welt um ihn herum verschwunden. Seine ganze Aufmerksamkeit war bei der Pfeilspitze, an der er arbeitete“.

 

Der Schmied arbeitete in aktiver Zuwendung, hochkonzentriert. Dazu fallen uns auch die Begriffe Hingabe ein und etwas neuer: Flow.

 

Wichtig bei dieser Betrachtung ist, Konzentration nicht mit Zurückziehen oder Absonderung zu verwechseln. Der Schmied hatte eine Art Filter eingeschaltet, der notwendigen oder lebensbedrohlichen Störungen durchaus Zutritt zu seiner Aufmerksamkeit gestatten würde. Er befindet sich nicht in Trance!!  Er nutzt lediglich die volle Kraft seiner ungeteilten Aufmerksamkeit, solange, wie  keine Notlage oder Bedrohung für ihn selbst oder für Menschen und Dinge, die ihm wichtig sind, eintreten. Der Hochzeitszug konnte diesen Filter nicht passieren – er entsprach den Kriterien nicht.

 

Aufmerksamkeit ist also Wachsamkeit in einer bestimmten Bewusstseinsebene. Durch Übung und Erfahrung können wir unsere Aufmerksamkeit lenken. Unser Wille kann sie für eine Weile in eine bestimmte Richtung, auf ein bestimmtes Ziel fokussieren.

 

Die Stärke und Ausdauer, mit der wir unsere Aufmerksamkeit zielgerichtet halten können, lassen sich trainieren / man kann das üben.

 

Der Grad dieser Kraft entspricht auch dem möglichen Grad der Konzentration unseres Geistes. Es ist naheliegend, dass das, worauf wir uns konzentrieren, maßgeblich ist für die Anstrengung, die wir aufwenden müssen, um uns konzentriert halten zu können. Wenn sich sozusagen aktive Zuwendung  und passives Angezogensein gleichzeitig auf denselben Gegenstand richten, passiert KONZENTRATION fast von selbst.

 

Um Konzentration willentlich lenken zu können, übt man, diese beiden Ströme gleichzeitig zu erzeugen und zu kontrollieren. Wir beziehen die Energien dazu aus unserem Herzen (unseren Emotionen), unserem Verstand und unserem Körper (unseren physischen Empfindungen) und führen sie im Zustand der Aufmerksamkeit zusammen; dabei trainieren wir uns gleichzeitig als unveränderlichen Beobachter in der Kontrolle dieses Vorgangs.

 

Ich mag es, in meinen Blog-Artikeln Aussagen kluger, lebenserfahrener und weiser Menschen zu zitieren und lassen sie auf zu den verschiedensten Themen auf mich selbst und, wenn Du magst, auf Dich wirken zu lassen. Wir erkennen dabei auch,  wie das Üben der verschiedenen Facetten der Aufmerksamkeit und die Anwendung des Filters wirken können. In diesem Zusammenhang ist mir folgende Geschichte zu Ohren gekommen, die von jemandem mit dem Beruf „Sanitäter“ stammt:

 

„Ich wurde zu einem Notfall gerufen. Ein Mann war auf ein Baugerüst geklettert und drohte, herunterzuspringen. Ich sollte also raufklettern und versuchen, ihn von seinem Vorhaben abzubringen. Ich habe diesen Beruf freiwillig gewählt und ich übe ihn gern aus. Ich habe aber auch ein Problem: mir wird leicht schwindelig. Schon eine Photographie, die von  einem hohen Gebäude oder einem hohen Felsen herunter aufgenommen wurde, verursacht bei mir Schwindelgefühle. Das kam mir in dieser Situation aber gar nicht in den Sinn. Ich kletterte langsam Stufe und Stufe nach oben. Mir war vollkommen klar, was zu tun war und ich hatte alle Zeit der Welt. Ich war vollkommen ruhig, als ich oben ankam, und wieder war  ganz klar, was zu tun war: ich wusste genau, wie ich mich dem Mann zu nähern hatte und was ich ihm sagen konnte, um ihn zu beruhigen. Und mir wurde auch klar, dass ich überhaupt keine Angst hatte!“ 

 

Konzentration auf die Aufgabe hatte offenbar einen ganz besonderen Filter aktiviert, der die Angst als Störeffekt nicht zuließ, sie war komplett ausgeblendet. Die Aufgabe erwies sich stärker als die Angst. Jetzt könnte es interessant sein, diesen Sanitäter zu fragen, ob sein Erlebnis Auswirkungen auf künftige ähnliche Situationen hatte…

 

 

Kleiner Ausflug zum vielbewunderten Multi Tasking


Es gibt Menschen, die sagen, es mache ihnen keine Schwierigkeit, mehrere Dinge gleichzeitig mit hoher Konzentration zu erledigen. Multi Tasking nennt man das heute. Nach dem, was wir bisher gehört haben – geht das überhaupt? Hirnforscher und Zen Leute sagen: Nein, das geht nicht. Es handelt sich sozusagen um eine optische Täuschung – wie auch die Betrachtung eines analogen Films eine optische Täuschung hervorruft: die Bewegung entsteht nur im Gehirn durch die Zusammensetzung von so und so vielen Bildchen pro Sekunde. (Salamitaktik umgekehrt)

  • Wir lassen die  Aufmerksamkeit frei fließen oder bündeln sie auf einen Gegenstand oder eine Tätigkeit.
  • Währenddessen entscheiden wir, wie wir den Erfahrungsfilter einstellen müssen, um aus dem einen Zustand in den jeweils anderen zu gelangen
  • Von der Offenheit zur Konzentration einerseits und von der Konzentration zur Wahrnehmung der Umgebung andererseits.
  • Oder von der Konzentration auf einen Gegenstand zur Konzentration auf einen anderen Gegenstand.
  • So lernen wir auch, die Entscheidung zum Wechsel in die andere Einstellung schnell zu treffen um die Aufmerksamkeit dann auf einen anderen Focus zu richten.
  • Verstand und Erfahrung lehren uns, Störfaktoren schnell und präzise einzuschätzen, damit wir die Entscheidung zur Unterbrechung der Konzentration oder zur Ignorierung des Störereignisses richtig treffen können.
  • So lernen wir auch das Loslassen. Wir müssen in der Lage sein, die eine Einstellung vollkommen loszulassen, um der nächsten unsere gesamte Aufmerksamkeit widmen zu können.
  • Wir lernen also, unsere Aufmerksamkeit achtsam zu nutzen.
  • Von außen sieht das dann wie Multi Tasking aus!

 

Multi Tasking ist also das Ergebnis einer Aneinanderreihung: hohe Konzentration auf ein Thema – Loslassen – hohe Konzentration auf das nächste Thema usw. Loslassen ist das wichtige, aber auch schwierig zu beherrschende Verbindungsglied.

 

Was sagst Du zu dieser Geschichte:

 

„Zwei Mönche kamen auf ihrer Heimreise an das Ufer eines reißenden Flusses, wo sie einer jungen Frau begegneten, die die Strömung nicht allein überqueren konnte. Einer der Mönche hob sie auf seine Arme und stellte sie auf der anderen Seite sicher wieder auf die Füße. Dann setzen die beiden Mönche ihre Reise fort. Der Mönch, der den Fluss allein durchquert hatte, konnte schließlich nicht länger an sich halten und tadelte seinen Bruder: „Weißt du nicht, dass es gegen unsere Regeln ist, eine junge Frau zu berühren? Du hast die heiligen Gelübde gebrochen.“ Der andere Mönch antwortet: „Bruder, ich habe die junge Frau am Ufer des Flusses zurückgelassen. Trägst du sie immer noch?“

 

Auch eine Art Filter, der wir hier begegnen. Nicht gegen Angst, sondern gegen Vorschriften für den Fall, dass sie der Erfüllung einer wichtigeren Aufgabe entgegen stehen. Anschließend schließt sich dieses Fenster sofort wieder, die zweckgebundene Ausnahme von der Regel wird losgelassen und vergessen. Der nur durch Zuschauen beteiligte Bruder ließ nicht los; er gestattete seiner Aufmerksamkeit eine unbotsame weitere Beschäftigung 

 

Mit den Übungen sollten wir also – wie Vivekananda eindrucksvoll resummiert und dem viele andere sicher zustimmenmöglichst früh im Leben beginnen. Eltern wissen, dass kleine Kinder die wunderbare Gabe der hohen Konzentrationsfähigkeit bereits besitzen – sie verlernen sie aber leicht mit der Erweiterung ihres Gesichtskreises und der Zunahme der gebotenen und wahrgenommenen Ablenkungen. Durch Übung erinnern sie sich und können die Anwendung dieser Fertigkeit wieder festigen.  

 

Nun habe ich vorhin das Wort achtsam verwendet … jetzt gestatte ich mir einen kleinen achtsamen Ausflug als Versuch, Aufmerksamkeit und Achtsamkeit in Relation zu bringen.

 

In den grundlegenden Achtsamkeitsreden des Buddha geht es um eine flexible Konzentration, um die Vergegenwärtigung natürlicher Gegebenheiten oder Prozesse, die zu befreienden Einsichten führen. Es werden dort vier verschiedene Vergegenwärtigungen angeführt:

  1. Vergegenwärtigung des Körperlichen (des Körpers)
  2. Vergegenwärtigung der Empfindungen (des Herzens, unserer Gefühle)
  3. Vergegenwärtigung des Geistes und dessen wechselnder Zustände (des Verstandes)
  4. Vergegenwärtigung der „Natürlichen Wahrheiten“ (der unveränderliche Beobachter)

 

Fast genauso habe ich eingangs die Energien der Aufmerksamkeit beschrieben:

 

Wir beziehen die Energien unseres Herzens (unserer Gefühle),

unseres Verstandes und

unseres Körpers in den Zustand der Aufmerksamkeit ein

und trainieren uns gleichzeitig als unveränderlichen Beobachter in der Kontrolle dieses Vorgangs.

 

Von innen nach außen: Mit kontinuierlicher Übung kann man den Fokus der aufmerksamen Konzentration größer und größer werden lassen und so langsam eine offene und weite Wahrnehmungsfähigkeit entwickeln, die der allgegenwärtigen Achtsamkeit als Lebenseinstellung entspricht.

 

Ziele einer jeden Achtsamkeitspraxis sind:

 

  • Mit sich selbst in Kontakt kommen
  • Wach sein und in Harmonie mit sich selbst und der Welt leben
  • Erforschen, wer wir sind, unsre Weltanschauung und Rolle in der Welt hinterfragen
  • Jeden Augenblick, indem wir leben, in seiner Fülle schätzen lernen

 

Diese Achtsamkeit kann und soll sich ständig weiter entwickeln.

 

Ich danke Dir für Deine achtsame Aufmerksamkeit!

Ein wirklich überzeugendes Bildnis achtsamer Aufmerksamkeit

ÜbrigensWenn Du schnell und ganz persönlich ein Feedback geben und Antwort von mir haben möchtest, schreib mir einfach eine Mail: erc@evelynrittmeyer.com oder eine WhatsApp 
(0172 850 17 21). Ich lese jede Mail und jede WhatsApp und antworte a.s.a.p. 😎

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